Schliessen Sie kurz die Augen und stellen Sie sich einen normalen Winterabend in irgendeiner Zeit vor der unseren vor. Was sehen Sie? Ich sehe eine Gruppe Menschen, die zum Schutz vor der Kälte in einer Höhle, in einer Hütte, in einer Burg kreisförmig zusammensitzen, um ein Feuer oder vielleicht auch nur um eine Kerze, und einer von ihnen erzählt eine Geschichte. Eine Geschichte von früher, von Gottheiten, ein Märchen, von der Jagt oder vom Krieg. Ich nehme an, dass Ihr Bild dem meinen zumindest ähnelt.
Für lange Zeit waren Erzählungen in Geschichten und in Liedern die effektivste Art, Wissen und Kultur weiterzugeben. Heute brauchen wir diese Form von Wissensweitergabe scheinbar nicht mehr. Seit wir alle lesen können und uns das Wissen der Welt in digitaler Form jederzeit und überall zur Verfügung steht. Wir brauchen sie nicht mehr, um dem Vergessen entgegenzuwirken. Heute hat Erzählen, wenn überhaupt, dann nur noch im Zusammenhang mit Kindern Platz. Kleinen Kindern erzählen wir eine Gute-Nacht-Geschichte oder singen ein Lied. Aber darüber hinaus? Erzählen braucht Zeit um zu berichten und Zeit um zuzuhören. Es ist aufwändig – sowohl das Erzählen wie das Zuhören – weil es die Fähigkeit und Bereitschaft bedingt, Gedanken, Emotionen und Motive des Gegenübers zu erkennen und zu verstehen. Es kann uns mit Ängsten konfrontieren und mit Abgründen. Es ist eine Begegnung mit dem Leben.
Erzählen braucht Zeit, die wir dafür nicht mehr aufbringen möchten. In der Schule werden die Erzähler als Schwätzer abgetan und gemassregelt so, dass später dann ganz einfach die Gewohnheit fehlt zu erzählen. Untersuchungen zufolge sprechen amerikanische Paare 5 Minuten pro Tag ernsthaft miteinander. In dieser kurzen Zeit hat eine Erzählung keinen Platz, die Zeit reicht bestenfalls für die Verwaltung von Haushalt und Familie aus. Bestenfalls. Die Leere, die dadurch entsteht füllen wir mit Selbsterfüllungsprojekten, wir machen Sport, lernen Töpfern oder gehen in ein Buddhistisches Kloster, wo wir mit Hilfe von Meditationstechniken lernen, das Schweigen auszuhalten. Perfekte Symptombekämpfung.
Dass ich nicht der einzige bin, dem diese Entwicklung Unbehagen bereitet, zeigen äusserst erfolgreiche Gegenbeispiele. Wird der umtriebige Jack White, Frontmann und Mastermind von Bands wie The White Stripes, The Raconteurs oder The Dead Weather nach seinem Beruf gefragt, gibt er „Erzähler“ an. Er erzählt Geschichten – in Worten, Akkorden und Melodien.
Oder im beruflichen Rahmen: Am diesjährige Swiss Requirements Day in Zürich bin ich dem Thema Erzählen gleich dreimal in unterschiedlicher Form begegnet.
Diese Beispiele verfolgen einen gemeinsamen Ansatz: Dem Leser oder Zuhörer das Aufnehmen komplexer Zusammenhänge so einfach wie möglich zu machen. Was nützen perfekte Anforderungsdokumente wenn sie nicht gelesen werden? Nicht aus bösem Willen oder aus Abneigung nicht gelesen werden, sondern weil uns Emotionslosigkeit nicht entspricht, weil sie uns sehr schnell langweilt.
Werden wir doch alle wieder ein bisschen Erzähler. Erzählen wir von unseren Gefühlen, von unseren Erlebnissen, von unserem Umfeld. Erfinden wir Geschichten um unsere Ziele klar zu machen, um Kultur weiterzugeben und – vielleicht – um die Welt ein ganz kleines Stück besser zu machen: „Solange erzählt wird, wird nicht geredet, wird nicht argumentiert, wird nicht gestritten – Erzählen ist friedlich“ (Peter Bichsel).