Melete – oder ein Plädoyer für die Langeweile

X-Pression
2.04.2010

„Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,
Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung,
Vieler Menschen Städte gesehen und Sitte gelernt hat,
Und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet,
Seine Seele zu retten und seiner Freunde Zukunft…“

So beginnt Homer sein zweites Epos – die Odyssee. Er ruft eine namenlose Muse an, kurz darauf kommt eine Trias von Musen auf: die drei Schwestern Melete, Mneme und Aiode, später werden es deren Neun. Homer ruft die Muse an, damit sie ihm helfe bei der Schilderung der Geschichte von Odysseus. Offenbar hat sie ihm geholfen: Es sind 12’200 Hexameter zusammengekommen, unterteilt in 24 Gesänge. Und es ist ein Werk geworden, das noch heute, fast 3000 Jahre später, gelesen wird.

Musen werden seit der Antike als göttliche oder genialische Inspirationsquellen für Künstler genannt. Ursprung ist die antike Vorstellung, dass Ideen nicht selbst entwickelt, sondern von Göttern oder eben Musen von aussen eingegeben werden. Auch wenn wir heute davon ausgehen, dass Ideen und Gedanken unserem Hirn entspringen, eine Inspirationsquelle brauchen nicht nur Künstler, sondern wir alle. Und so möchte ich Muse gleichsetzen mit Intuition, Eingebung, Idee, Inspiration.

Muse geht immer mit Musse einher. Sie fühlt sich nicht wohl im Stress. Sie meidet den Alltag, die Hektik, den Aktionismus. Und auch wenn der grösste Teil unserer Arbeit Handwerk ist – von anderen unterscheiden können wir uns über die Muse, die Idee, die Inspiration.

Ich bin überzeugt, dass die Muse nur zu Homer kam, weil er sich die Zeit nahm, auf sie zu warten. Ob das Wort „Muse“ etymologisch mit „Musse“ verwandt ist, weiss ich nicht – aber die Wörter haben viel gemein. Dies wird auch bei der Definition aus Wikipedia deutlich: „Mit Musse bezeichnet man die Zeit, welche einer Person zum Nutzen nach eigenem Wunsch zur Verfügung steht, worin sie sich „erquickt und auferbaut“, allenfalls seiner Muse frönt oder den Musen.“

In dieser Zeit der Musse ist es viel wahrscheinlicher, dass wir unsere Kreativität entwickeln können als in der Hektik des Alltags. Ich erlebe bewusst gestaltete Feizeit am kreativsten. Das heisst nicht, dass die freie Zeit verplant wird, sondern dass sie geplant wird, so dass die freie Zeit bewusst frei erlebt werden kann; dass auch für diese freie Zeit Ziele gesetzt werden, und zwar sehr langfristige und ohne Termindruck, aber mit einer Vision, die Freiräume und Freizeiten für uns schafft – Zeiten der Musse.

Dass diese Musse auch wirtschaftlich hochinteressant sein kann, haben viele Firmen längst erkannt: 3M ermöglicht seinen Mitarbeitern seit den 30-er Jahren des letzten Jahrhunderts 15% ihrer Arbeitszeit für all das einzusetzen, was im hektischen Alltag keinen Platz hat. Die bekanntesten Ergebnisse daraus sind das Scotch Tape und die Post-it’s. Google stellt seinen Mitarbeitern 20% der Arbeitszeit zur Verfügung – einen ganzen Tag pro Woche also.

Ich will nun aber nicht die Verantwortung an die Firmen delegieren, auch wenn ich täglich erfahre, wie der Stress in der heutigen Zeit immer mehr zunimmt. Tatsache ist auch, dass sich das Arbeitsvolumen, also die Zahl der effektiv geleisteten Arbeitsstunden pro Kopf der Bevölkerung von 1900 bis zum Jahr 2000 in unseren Breitengraden ziemlich genau halbiert hat. Wir haben also nicht nur mehr Druck während der Arbeit, wir haben auch 30 bis 40 Stunden mehr Freizeit als unsere Urgrosseltern vor hundert Jahren. Und diese Zeit könnten wir auch nutzen, um die Muse zuzulassen- jeder einzelne kann einen definierten Teil seiner eigenen Zeit einsetzen, in der er der Muse Raum gibt, in der er bewusst verlangsamt und dadurch in der restlichen Zeit schneller vorankommt.

Stefan Sagmeister schliesst sein Grafikbüro Sagmeister Inc. in New York alle sieben Jahre für ein ganzes Jahr. Er nutzt dieses „Sabbatical Year“ für alles, was nicht Platz hat in den Jahren, die mit täglicher Arbeit gefüllt sind. Ich finde das sehr mutig und der Erfolg gibt ihm Recht. Ich selber setze konsequent einen Nachmittag pro Woche für die Projekte und Aufgaben ein, die an den normalen Wochentagen liegen bleiben. Für Leerräume und -zeiten. Für lange Weile. Für Diskussionen und Stille. Für freie Zeit, auf die Muse zu warten.

Begonnen habe ich das Plädoyer für bewusste freie Zeit mit einem antiken Zitat. Aufhören möchte ich es mit einem Zitat aus unserer Zeit, aus einer Kolumne von Peter Bichsel:

„Die etwas schwerfällige, aber wunderbare Langeweile hat eine lustige, schöne aber böse Schwester – sie heisst Kurzweil. Sie versaut und verkürzt uns das Leben, denn jene leere Ecke in meinem Hirn, in der die Langeweile sich gemütlich breitmachen möchte, jene leere Ecke, in der die Langeweile zur Sehnsucht wird, das wäre wohl ich – ich ganz selber. Aber immer wieder ist sie besetzt von der schönen, bösen Schwester Kurzweil.“

Nik Ludin, Dezember 2009

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